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Gedächtnisspanne

Die Gedächtnisspanne ist die Zahl der Elemente, die ein Lebewesen gleichzeitig miteinander vergleichen oder in irgendeine logische Beziehung zueinander setzen kann. Je größer die Gedächtnisspanne bzw. das unmittelbare Behalten ist, desto kompliziertere Denkvorgänge werden möglich.

Spricht man einer Person eine Reihe von einsilbigen Worten vor, also etwa Pferd, Hund, Kuh, Schaf usw. - jedes Wort nur einmal und das nächste im Abstand von einer Sekunde - und fordert die Versuchsperson dann auf, die Worte zu wiederholen, dann stellt sich heraus, dass sich ein Erwachsener im Durchschnitt sieben Worte merken kann, höchstens neun, bei einem niedrigen IQ aber nur fünf. Das Ergebnis lässt sich immer wieder bestätigen, z. B. beim Nachsprechen von einfachen Zufallszahlen. Eine erfahrene Testperson kann allerdings durch das Merken von Zahlengruppen ihr Ergebnis verbessern. Sieht man aber von derartigen Tricks ab und auch davon, dass eine einzelne Person ihren Spitzenwert nicht immer, sondern nur bei einem Prozentsatz der Tests erreicht, dann ist der Zusammenhang zwischen Gedächtnisspanne, IQ und Kurzspeicherkapazität bzw. Leistungsvermögen des Arbeitsgedächtnisses ein regelmäßiger.

Die Gedächtnisspanne ist bei kleinen Kindern gering, nur zwei oder drei, und wächst dann bei intelligenten Kindern etwa alle zwei Jahre um ein Element an. Es war der Psychologe Jean Piaget, der die Bedeutung der Gedächtnisspanne erkannte und der die Theorie aufstellte, dass das Ausreifen des Denkens bei Kindern ursächlich mit dem Wachsen der Gedächtnisspanne zusammenhängt. Hochbegabte Kinder haben schon bei Eintritt ins Schulalter eine Gedächtnisspanne von fünf, eine Menge also, die Erwachsene mit einem IQ um 85 niemals übertreffen.

Die Denkmöglichkeiten lassen sich aber nicht nur durch Tricks, sondern auch durch systematisches Lernen und Üben über die einfache Gedächtnisspanne hinaus erweitern. Wiederholt man die einsilbigen Worte Pferd, Kuh, Schaf usw., dann kann sich die Testperson rasch einen Bauernhof vorstellen, in den sich die Tiere einordnen, und mit dieser bildlichen Vorstellung lassen sich dann die Einzelelemente lückenlos wieder abrufen und die Spanne scheinbar erweitern. Auf der Bildung solcher durch Übung verbundenen Zusammenhänge (der englische Fachausdruck dafür ist: Chunk), die sich dann im Gedächtnis nicht mehr wie verschiedene Elemente, sondern nur als einziges darstellen, beruhen offensichtlich alle höheren Denkvorgänge. Der Mathematiker z. B. ist, wie jeder andere in einem Beruf mit hohen Anforderungen an die Intelligenz, in der Lage, hochkomplizierte Denkvorgänge zu vollziehen und zu verstehen, weil für ihn mehrere einfache Elemente so zu einer neuen Einheit verschmolzen sind, dass er sie als logische Ketten so handhaben kann wie ein Kind einsilbige Worte. Auch der Autofahrer, der Jäger und der Soldat hat für überraschende Situationen auf Grund seines Trainings und seiner Erfahrungen schon Reaktionen automatisiert, die sein Denken nicht voll besetzen, sondern noch Entscheidungsraum lassen. Jeder, der einmal Auto fahren gelernt hat, kennt die gefährlichen Situationen, wo diese Automatisierung noch nicht eingetreten ist und jeder Schritt bewusst nachvollzogen werden muss.

Das Testen der Gedächtnisspanne in verschiedenen Varianten (z. B. Wiedergabe von Zahlenfolgen vorwärts oder rückwärts oder mitten aus einer fortlaufenden Zahlenreihe heraus) ist seit etwa 100 Jahren ein fester Bestandteil von zahlreichen Intelligenztests. Es gibt auch IQ-Tests, die auf der Grundlage der Theorie von Piaget entwickelt worden sind.

Literatur

  • Fritz Süllwold: Das unmittelbare Behalten und seine denkpsychologische Bedeutung. Göttingen: Hogrefe 1964.